Alles anders. Alles still.

Leichter Schneefall. Die nachtschwarze Straße liegt glitzernd im Schweinwerferlicht vor mir. Gleich hinter diesem Waldstück muss die Ortschaft liegen, die ich heute Abend erreichen möchte. Bald sehe ich die ersten Straßenlaternen mit ihrem orangefarbenen Lichtkegel. Die Bürgersteige sind verlassen. Die Menschen sitzen längst in ihren gemütlichen Stuben beim Abendbrot zusammen und genießen die Vorfreude auf die Feiertage. In Sachen Außenfestbeleuchtung wenden sie unterschiedlichste Taktiken an, von dezent minimalistisch bis epileptisch aggressiv. Das Navi verkündet mit monotoner Stimme, dass ich bei diesem stimmungsvoll beleuchteten Landhotel im Fachwerkstil mein Ziel erreicht habe. Beim Anblick des Gebäude-Komplexes schießt sofort der wohl vertraute Adrenalinschub durch meinen Körper.

Zeitsprung. Wenige Stunden später.

Der Schlussapplaus ist verebbt. Wir haben zusammen gelacht, gestaunt und geträumt. Ich sehe viele fröhliche Menschen, die sich ungezwungen unterhalten. Einige Gäste halten auch mit mir einen kurzen Smalltalk. Sie fragen nach Visitenkarten und drücken damit aus, wie sehr sie den Abend genossen haben. Und wie gerne sie dieses Erlebnis bei ihrer Geburtstagsfeier im nächsten Jahr wiederholen möchten. Ich weiß auch, dass nur ein Bruchteil von ihnen im nächsten Jahr wirklich bei mir anrufen wird. Doch das ist vollkommen egal, denn in diesem Moment meinen sie es ernst.

Das Adrenalin hat sich längst aus meinem Körper verabschiedet und in mir herrscht Zufriedenheit, denn ich habe wieder eine Weihnachtsfeier erfolgreich verzaubert.

Doch dieses Jahr wird alles anders sein. Da wird keine bunt gemischte Zuschauerschar im Hotel auf mich warten. Ich werde keine neuen Orte und Menschen kennenlernen. Wir alle werden Zuhause sein und hoffen, dass es irgendwann wieder so sein wird, wie es immer war. Und allein beim Gedanken daran vermisse ich all das schon jetzt fürchterlich.

Ich bin Zauberkünstler. In meiner speziellen Art der Zauberei bin ich auf ein analog – nicht digital – vor mir sitzendes und live atmendes Publikum angewiesen. Auf die Reaktionen und Mechanismen, die beim gemeinsamen Staunen in einer Gruppe so ganz automatisch passieren. Seit Monaten kann ich das so gut wie gar nicht mehr erleben. Um ehrlich zu sein – die Erinnerungen an die letzte Weihnachtssaison fühlen sich an, als wären sie aus einem anderen Leben. Beim Betrachten der Fotos vergangener Shows fühlt es sich an, als hätte jemand ganz anderes all das erlebt.

Was macht es mit einem Künstler, wenn er nicht mehr gebraucht wird? Jahrzehntelang habe ich – haben wir – all unser Herzblut und einen nicht zu unterschätzenden Haufen an Zeit und Geld in den Aufbau unserer Künste und Fertigkeiten gesteckt. Und von heute auf morgen wurden wir stumm geschaltet, denn wir sind nicht systemrelevant.

Leider laufen die großspurig angekündigten Staatshilfen häufig ins Leere und es bleibt vielen meiner Kolleginnen und Kollegen nur noch der Antrag auf Grundsicherung. Haben wir dafür all die Jahre unsere Steuern und Abgaben geleistet? Sogar Rücklagen für schlechte Zeiten haben wir gebildet – die inzwischen natürlich längst aufgebraucht sind. (Denn, lieber anonymer Facebook-Troll im Home-Office bei vollen Bezügen: Eine Pandemie mit einhergehendem staatlich verordnetem Berufsverbot ist kein kalkulierbares Unternehmerrisiko, mit dem man rechnen muss, wenn man sich selbständig macht!) Aber das Finanzielle ist ein anderes Thema, zu dem es bereits viele gute Aktionen gibt…

Was mir aber am Herzen liegt, ist etwas anderes: Wir werden sicher alle irgendwie über die Runden kommen. Mit Nebenjobs, Hartz IV oder der ein oder anderen Sonderzahlung des Staates (<- Optimismus). Denn wir sind es gewohnt, zu improvisieren, mit den unmöglichsten Situationen zurecht zu kommen. Wir alle vor, auf und hinter der Bühne – das haben wir gelernt.

Aber was dann? Werden wir nach Corona einfach da weiter machen können, wo wir aufgehört haben? Werden das alle Kulturschaffenden psychisch durchhalten oder irgendwann aufgeben und lieber dauerhaft Regale einräumen, um nicht noch einmal untätig und gelähmt mit ansehen zu müssen, wie ein Lebenswerk den Bach runter geht? Werden Clubs und Theaterbühnen, Kinos und Kulturvereine noch so lange ihre Miete bezahlen können?

Sicherlich meckern wir auf hohem Niveau. Unser Leben ist (außer durch das Virus) nicht bedroht. Wir retten mit unserer Kunst auch keine Leben, so wie es andere Berufsgruppen tagtäglich tun. Aber wir machen doch viele Leben ein Stück lebenswerter. Ohne uns gibt es keine Konzerte, kein Theater, kein Kino. Ohne uns wird es einfach nur sehr still.

Was könnt ihr tun, dass diese Stille nicht für immer bleibt?

Geht doch nächstes Jahr (<- optimistische Zeitangabe) einmal mehr ins Kino als sonst und feiert den nicht-runden Geburtstag etwas größer. Wann wart ihr das letzte Mal im Theater oder habt euch das Programm der örtlichen Kleinkunstbühne angeschaut? Genießt eure Lieblingsband mal wieder live, nicht nur auf YouTube. Wir sind alle hungrig – und vielleicht erlebt ihr in der Zeit nach Corona die besten Shows, die wir je gezeigt haben. Wir sind bereit. Und dann wird hoffentlich bald wieder alles anders, alles nicht mehr still.

Ich wünsche allen Lesern eine trotz allem schöne und besinnliche Advents- und Weihnachtszeit. Haltet alle durch – wir sehen uns 2021!

Zu den verschiedenen Aktionen möchte ich einige Hashtags empfehlen – schaut einfach in den sozialen Medien vorbei, liket und teilt nach Herzenslust:

#alarmstuferot
#sangundklanglos
#ohneunswirdsstill
#kulturgesichter
#kulturerhalten
#ohneunsistsstill

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